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發表於 2007-9-18 19:15:59
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„Jahr der Geisteswissenschaften“
Der Luxus des freien Denkens
Von Hans Ulrich Gumbrecht
Was hilft Denken?
10. Januar 2007
2007 soll das „Jahr der Geisteswissenschaften“ werden. Zeit, endlich wieder Mut zur Exzentrik zu fassen. Zehn Beobachtungen von Hans Ulrich Gumbrecht, Professor für Romanistik an der Stanford University.
1.
Dass heute jedes Jahr, lange bevor es beginnt, mit chronographisch motivierten Gedenk-Anlässen für sich wirbt, gehört zu den Obsessionen der Zeit. Zukunftsverdrossen und tendenziell auch gegenwartsverwirrt, lassen wir uns gerne von vielfachen Vergangenheiten überfluten und tauchen ausführlich in ihre Tiefen, um dann zum Jahreswechsel kurz Luft holend nach den nächsten Wellen des Erinnerns Ausschau zu halten. Inzwischen hat sich, erfolgsbedingt wohl, zu den Gedenk-Jahren eine kulturelle Gestalt gesellt, die man „Fokus-Jahre“ nennen könnte.
Staatliche wie private Agenturen testen ihren Einfluss, indem sie den jeweils erreichbaren Öffentlichkeiten zwölfmonatige Spannen der Konzentration auf bestimmte Phänomene und Institutionen nahe legen. Vorbildlich im Trend liegend hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung verschiedenen Fächern und Zweigen der Wissenschaft mittlerweile schon sieben solcher Jahre gewidmet und ruft nun endlich, von einer bisherigen Fixierung auf die Naturwissenschaften erstmals abweichend, 2007 als „Jahr der Geisteswissenschaften“ aus. Damit steht die Initiative auch zum ersten Mal in einem eigentümlichen Spannungsfeld, das an solche Fokus-Jahre gebunden scheint. Weil einerseits niemand an der Bedeutung der Naturwissenschaften zweifelt, geraten Jahre der Physik oder der Lebenswissenschaften unvermeidlich zu Anlässen selbstbewusster Leistungsschau. Mit einem Jahr der Geisteswissenschaften andererseits läuft man ebenso unvermeidlich Gefahr, der besonderen Peinlichkeit zu erliegen, welche in jeglicher Feier des angeblich „zu Unrecht Vernachlässigten“ lauert.
2.
Das vom Ministerium lancierte Motto „Die Geisteswissenschaften - ABC der Menschheit“ macht einen langen Schritt in die Zone eben dieser Peinlichkeit, welcher durch die Banalität der mit ihm verbundenen Bedeutungen vielleicht schon bis zur Unumkehrbarkeit verstärkt ist. Die „Vielfalt der Geisteswissenschaften“ solle deutlich werden in ihrer „Auseinandersetzung mit allen Bereichen, die den Menschen als geistiges Wesen ausmachen“, aber auch „die große Bedeutung der Sprache für die Funktion“ der Geisteswissenschaften.
Solche pompösen Auslegungen des Offensichtlichen mögen noch das bildungsfreundlichste Publikum davon überzeugen, dass es besser wäre, die Geisteswissenschaften auszuschließen von einem europäischen Förderungsprogramm, das ihnen - zusammen mit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften - sage und schreibe 623 Millionen Euro an Sondermitteln zuschanzen soll. Ist es denn wirklich vordringlich, „Verständigung (Kommunikation), insbesondere innerhalb der eigenen und mit fremden Kulturen“ zu erforschen? Kann man Verständigung nicht einfach geschehen lassen? Trifft es zu, dass sich die Leistung der Geisteswissenschaft im „Vermitteln“ von Begriffen und Bedeutungen, im „Gestalten“ von Welt-Bildern und im „Erinnern“ bewährt?
3.
Die Antwort heißt nein. Denn während wir das Vermitteln, Gestalten und Erinnern von Welt-Wissen „Kultur“ nennen, visieren die Geisteswissenschaften - innerhalb der Kultur - die spezifischere Aufgabe an, all die kulturkonstituierenden Prozesse reflexiv zu erfassen. Freilich könnte die dem Bundesministerium unterlaufene Ebenenverwechslung Symptom für eine sich derzeit vollziehende Entdifferenzierung sein. In Deutschland jedenfalls sind einige der fähigsten Köpfe aus einer Generation junger Geisteswissenschaftler in die Feuilletons abgewandert, die sich ihrerseits merklich für Geisteswissenschaftler als Autoren geöffnet haben.
Diese Konvergenz soll denn auch auf einem „Gipfel: Feuilleton trifft Wissenschaft“ während des Jubeljahrs gefeiert werden. Zugleich konzentrieren sich die Spendeneinwerbungskampagnen an amerikanischen Spitzenuniversitäten zunehmend auf Projekte zur Initiierung künstlerischer Praxis - und immer weniger auf das, was man eigentlich nur auf Deutsch „geisteswissenschaftliche Forschung“ nennt. In solchen Bewegungen zeichnet sich möglicherweise eine Re-Absorption des ehemals ausdifferenzierten akademischen Phänomens der Geisteswissenschaften durch die kulturelle Öffentlichkeit ab.
4.
„Wissenschaften im strengen Sinn“ zu sein, hatten sich die Geisteswissenschaften ja ohnehin nur im Einflussbereich der deutschen Tradition aufs Banner geschrieben. An den angloamerikanischen Universitäten heißen sie bis heute „Humanities and Arts“ und werden als Kennerschaft mit schriftstellerischer Ambition und erzieherischer Verpflichtung gelebt. Wörtlich übersetzt wirkt eine Berufsbezeichnung wie „Literaturwissenschaftler“ im Englischen fast komisch. Das Französische führt - wie die anderen romanischen Sprachen - zwar einen Begriff der „sciences humaines“, nennt aber die Gelehrten jener Fächer nicht „Wissenschaftler“.
Eben im Sinn solcher lexikalischen Unterschiede stößt man außerhalb der deutschen Tradition auch auf erhebliche Skepsis gegenüber allen anderen Analogien zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften: die „Humanities“ pochen kaum auf „Methoden“, groß angelegte Projekte von Verbundforschung werden für sie selten konzipiert und nie gefördert, und keiner käme auf den Gedanken, ihre Funktion in den College-Lehrplänen „berufsausbildend“ zu nennen. Gerade darunter scheint allerdings ihre Beliebtheit bei der jüngsten Generation von College-Studenten gelitten zu haben, die - entgegen der eigenen Tradition und oft auch entgegen den Erwartungen ihrer Familien - den frühen Erwerb von berufsrelevantem Wissen suchen.
5.
Natürlich ist nichts Prinzipielles gegen Wissenschaftlichkeitsehrgeiz in den Geisteswissenschaften einzuwenden, solange die Alternativen nicht aus dem Blick geraten - und auch der nicht bloß finanzielle Preis, der daran gebunden ist. Nur in Deutschland zum Beispiel, wo der Zusammenschluss der Geisteswissenschaften zu einem Disziplinenverbund und ihre Abtrennung von den Naturwissenschaften systematisch vorreflektiert waren, sind die gut hundert Jahre ihrer Geschichte von Konkurrenzneid, von der Furcht vor Wirklichkeitsverlust und von dem Druck überschattet gewesen, sich durch „unverzichtbare gesellschaftliche Funktionen“ rechtfertigen zu müssen. In keiner anderen akademischen Tradition ist folglich die Stellung der Geisteswissenschaften ähnlich zentral und ihre Geltung ähnlich prekär.
6.
Darin mag ein Grund für die Neigung liegen, ihren Rang „im internationalen Vergleich“ entweder sehr deutlich zu über- oder zu unterschätzen. Da die Zeichen heute eher auf einem habitualisierten Minderwertigkeitskomplex stehen, tat der Wissenschaftsrat gut daran, vor etwa einem Jahr auf das heute weltweit hohe Ansehen der deutschen Geisteswissenschaften zu bestehen. Denn die Innovations- und Provokationsschübe, die vor drei oder zwei Jahrzehnten aus Frankreich und dann bald auch aus den Vereinigten Staaten kamen und die deutschen Geisteswissenschaftler in eine reaktive Position drängten, sind längst verebbt. In einer Gegenwart der intellektuellen Windstille haben die deutschen Geisteswissenschaften - vielleicht dank der international einmaligen Finanz-Volumina ihrer Förderung - sichtbar aufgeholt und auf einigen Gebieten sogar Vordenker-Figuren hervorgebracht.
7.
Wenn man sich von der fixen Idee befreien könnte, nach der die Geisteswissenschaften einen unmittelbaren gesellschaftlichen Bedarf befriedigen (oder wenigstens befriedigen sollten), dann würde der Sachverhalt evident, dass es für mittelmäßige Lehrveranstaltungen oder Bücher in den Geisteswissenschaften keine Rechtfertigung gibt. Wissensvermittlung in den vorklinischen Fächern etwa oder in den Ingenieurswissenschaften gewinnt ihre Legitimität aus den zukünftigen Berufsanforderungen ihrer Studenten. Für langweilige Vorlesungen über Shakespeares Dramen oder Kants Kritische Schriften gibt es keine Entschuldigung, weil sie eine Beschäftigung der Studenten mit solchen Gegenständen am Ende eher verstellen als befördern.
Wäre es deshalb nicht besser, wenn - weltweit und national - die Zahl der Geisteswissenschaftler möglichst bald drastisch zurückginge? Diese Frage muss möglich und ihre Beantwortung mit arbeitsmarktpolitischen Argumenten sollte untersagt sein. Für Deutschland freilich dokumentiert das zuständige Bundesministerium einen erstaunlichen Anstieg der Geisteswissenschaftler von 19 auf 26 Prozent der Gesamtstudentenzahl während der letzten sechzehn Jahre. Unklar bleibt, ob diese Zahlen nur belegen, wie das dicht geknüpfte soziale Netz Europas den Jungakademikern alle Angst vor bevorstehender Arbeitslosigkeit nimmt - oder ob sie die erste Reaktion auf eine neue Wertschätzung geisteswissenschaftlicher Kompetenzen außerhalb der Geisteswissenschaften anzeigen.
8.
Allenthalben sind Geisteswissenschaftler gefragt für Vortragsanlässe oder Ausschüsse, in denen es darum gehen soll, Aktivitäten der Technik, Wirtschaft oder Politik unter die oft von Ressentiments getriebene Kontrolle ethischer Normen zu stellen. Die vollkommene Folgenlosigkeit solcher Anlässe belegt allerdings, dass kaum jemand den Geisteswissenschaftlern wirklich ein kompetentes Urteil in Fragen der Ethik zutraut. Einfach auf Wissenschaftlichkeit oder Methodik kann sich ein solcher Anspruch ja wohl nicht stützen - aber worin sonst sollte er begründet sein? Andererseits wird jene Funktion beinahe beschämt verschwiegen, in der sich die Geisteswissenschaften am besten bewährt haben, nämlich die materielle Bewahrung und kulturelle Vermittlung von Texten und Kunstwerken der Vergangenheit.
Weniger offensichtlich, aber langfristig vielleicht ebenso wirkungsvoll mag der Beitrag der Geisteswissenschaften zur Komplexifizierung unserer Weltsicht sein. Indem sie - entgegen der Komplexitätsreduktionsfunktion aller anderen sozialen Systeme - die Welt komplizierter erscheinen lassen, als sie sich im sozialen Wissen darstellt, werden die Geisteswissenschaften zu Kritik oder Lob des Bestehenden und halten so die Zukunftshorizonte offen für Veränderung. Den Habitus solcher Komplexitätsproduktion zu wecken und zu formen, neue Fragen zu identifizieren und in die Diskussion zu bringen, wie es Wilhelm von Humboldt speziell von den Universitäten forderte, sollte den Vorrang haben vor der Absicherung alles im Vorhinein politisch und ideologisch Festgelegten.
9.
Was die Geisteswissenschaftler nicht nur für Deutschland verloren haben inmitten einer Zeit, da sie dank vielfältiger technischer Hilfsmittel, dank Sonderforschungsbereichen und häufiger Freistellung von der Lehre gegenüber ihren Vorgängern beständig Zeit zum Lesen, Denken und Schreiben akkumulieren sollten, ist der Mut zu großen gedanklichen Entwürfen und die Geduld zu profunder Gelehrsamkeit. Unsere Projekte wirken kleinteiliger und vielleicht unterhaltsamer für ein breites Publikum von Lesern als die unserer Vorgänger - aber meist auch weniger exzentrisch.
10.
Indem die Programm-Texte des Bundesministeriums zum „Jahr der Geisteswissenschaften“ beharrlich diese Fächer mit den von ihnen zu reflektierenden Phänomenen und Vorgängen verwechseln, tragen sie zu dem - ganz absurden - Eindruck bei, dass wir unsere Kultur, unser geistiges Leben und vielleicht sogar unsere Sprachen den Geisteswissenschaften verdanken. Vielleicht wird ja das ihnen gewidmete Jahr zum Anlass, endlich einmal selbst - statt durch abgenutzte Legitimationsdiskurse - zu betonen, dass Kultur, Sprache und Kunst ohne die Geisteswissenschaften gewiss weiterexistieren werden.
Bewundernswert und förderungswert sind sie allein wegen ihrer luxuriösen Unwahrscheinlichkeit. Dafür freigestellt zu sein, die Welt komplexer scheinen zu lassen, ist ein Erbe und ein Privileg, zu dessen Übernahme sich neue Generationen hoffentlich entschließen werden - hoffentlich auch im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass nicht einmal die Kontinuität der Geisteswissenschaften (und schon gar nicht die der menschlichen Kultur) von unseren Beschlüssen abhängt.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 07.01.2007, Nr. 1 / Seite 17
Bildmaterial: dpa
[ 本文最後由 renemcc 於 2007-9-18 21:36 編輯 ] |
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