Peter Rühmkorf ist tot
Der Verfassungspoet aus Övelgönne
„Schaut nur nicht so bedeppert in diese Grube. / Nur immer rein in die gute Stube. / Paar Schaufeln Erde, und wir haben / ein Jammertal hinter uns zugegraben.“ Das lassen wir uns gesagt sein, das können wir jetzt gebrauchen, dieses Blatt aus dem letzten Gedichtband von Peter Rühmkorf, wir halten es uns vor die Augen. Wir lassen lieber niemanden sehen, wie wir jetzt daherschauen, nachdem die traurige Nachricht eingetroffen ist, mit der man hat rechnen müssen: Peter Rühmkorf ist gestorben.
Er war sehr krank gewesen, hatte die Routinen seines seit Jahrzehnten geordneten Arbeitslebens ändern müssen. Die Spuren der Krankheit hatte man in diesem letzten Buch, „Paradiesvogelschiß“, finden können, natürlich nur in poetischer Verarbeitung und Verwandlung, nicht im Sinne eines Nachlassens der Kräfte, sonst hätte er das Buch nicht herausgehen lassen (siehe auch: Peter Rühmkorfs neuer Gedichtband „Paradiesvogelschiß“). Dass er selbst daran gegangen war, letzte Hand an seine Papiere zu legen, sah man nicht daran, dass er sich ein Lied vom Tod pfiff und mit ihm ein Tänzchen wagte, denn das hatte er ja sein Dichterleben lang getan. Er hatte einen Schnitt gemacht und sich entschieden, in das Buch auch Unvollendetes zu packen.
Angefangenes und Abgelebtes
Wohlgemerkt: in einen Gedichtband. Schon immer hatte er Einblick in seine Werkstatt gewährt, seine Memoirenbücher und Journale sind voll von Angefangenem und Abgelebtem. Es entsprach seinem radikalen Gerechtigkeitssinn, einem instinktiven Vermögen und hohen Anspruch an sich und andere, einem Vermögen seelentief unterhalb allem implizit ausgehandelten, also hintenherum doch kalkulierten Empfinden, dass er sich vor der Kritik die Blöße gab, seine Materiallisten auszulegen - hatte er doch poetische und kritische Produktion von vornherein zusammengeführt und schon als Student in der „Konkret“-Kolumne „Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof“ die Hervorbringungen der Kollegen am strengsten handwerklichen Standard gemessen.
1989 ließ er einen Wälzer drucken, der auf siebenhundert Seiten ein einziges Gedicht bot - mit sämtlichen Vorstufen, Sprungbrettern und Falltüren des Schaffensprozesses: „Selbst III/88. Aus der Fassung“. Der Dichter als sein eigener kritischer Editor mag in der deutschen Literaturgeschichte keine neue Figur sein, aber Rühmkorf traktierte sich selbst auf dem Niveau der damals fortgeschrittensten kritischen Editorik eines D. E. Sattler oder Roland Reuß, machte als Dichter ernst mit der von der Wissenschaft gar nicht einzuholenden Idee, alle verworfenen Versionen eines Werkes seien als Teile des Werkes zu betrachten, hätten, obwohl sie doch durchgestrichen zerknüllt wurden, Anteil an der Endgültigkeit des Werkes.
Das Doppelgesicht des Dichters
Dieses Denkmal, das er sich selbst errichtete, zeigt das Doppelgesicht des Dichters Peter Rühmkorf. Die Sehnsucht nach Anschluss und Verknüpfung, ja nach Auflösung und Zertrennung, wo sie das Knüpfen neuer Fäden und das Legen neuer Netze möglich machen soll - das ist der politische Rühmkorf, der Gemeinschaft stiften will. Die Selbstbetrachtung, ja Selbstbespiegelung, die der Gedichttitel ankündigt und das Buch dann durchspielt unter Übertretung aller Schicklichkeitsgrenzen, die von bürgerlichen Offenbarungskulturprodukten wie Brief, Testament und Diavortrag gewahrt werden - das ist der Künstler, der seine unübersetzbaren Eigenarten kultiviert und von der universellen Aussagekraft seiner krakeligen Handschrift überzeugt ist. Vollkommen zu Recht.
Das Eröffnungsgedicht des Bandes „Paradiesvogelschiß“ entfaltet in Balladenform noch einmal Rühmkorfs Poetik der geduldigen Bearbeitung von Urideen, die in der Hingabe ans hingeworfene, vom Himmel gefallene, nirgendwo im Verwertungskreislauf benötigte Detail unabsichtlich ein Ganzes entstehen lässt. Gedichte, das war der Streit, den er mit Benn suchte und nun im Olymp fortsetzen kann, werden, so glaubte er, nicht aus Wörtern, sondern aus Einfällen gemacht. Zwischen dem Programmgedicht am Anfang und den häufig zuerst in dieser Zeitung gedruckten Gedichten am Schluss streute Rühmkorf nun in diesem einen Band Einfälle aus, denen zum Gedicht der letzte Reim, die letzte Drehung noch fehlte. Als könnten diese Setzlinge in der Paradiesvogelschissbaumschule flüstern wie der Birnbaum des Herrn Ribbeck im Havelland und als wollten Sie uns zu verstehen geben: Dichtet ihr doch weiter! Und: Ihr werdet schon sehen, wie weit ihr kommt.
Inbild der Beharrlichkeit
Rühmkorfs Havelland lag an der Elbe, in Hamburg-Övelgönne. Seine Ortsfestigkeit ist Inbild einer Beharrlichkeit, mit der er unter den deutschen Schriftstellern seiner Generation einsam dasteht. 1929 als unehelicher Sohn einer Pfarrerstochter und Lehrerin geboren, erlebte Peter Rühmkorf als Jugendlicher die letzten Kriegstage als ein Reich der Freiheit, das er sozusagen nie verlassen hat. In den für seine Generation typischen Schüben des politischen Engagements bewahrte er sich eine innere Unabhängigkeit, die ihn nie in die Verlegenheiten des Renegatentums geraten ließ. Sein Memoirenband „Die Jahre die ihr kennt“ und seine Tagebücher der Jahre 1971 und 1972 (veröffentlicht als „Tabu II“, 2004) halten seine Gedanken über die Verschlingung von Protest und Gewalt fest. Er treibt die Gesellschaftskritik auf die Spitze, indem er sich im Selbststudium zu der provisorischen Diagnose vorarbeitet, die Engagierten hätten die Natur unterschätzt, die Untrennbarkeit seelischer und körperlicher Prozesse.
Wie nach christlicher Lehre auch die Tiere an den Folgen des Sündenfalls zu tragen haben, so lebt Rühmkorfs Werk aus dem Gefühl, dass die ganze Schöpfung unter der Individuation leidet. Zufällig erscheinende Korrespondenzen verweisen auf einen Sinn, den es wiederherzustellen gilt: Aus einer solchen ontologischen Naturgeschichte hat Rühmkorf den Reim hergeleitet. Es ist für ihn kein Zufall oder wenn doch, dann ein Zufall, dem die gesamte deutsche Literaturgeschichte einen Sinn hat zuschreiben und erarbeiten müssen, dass diese Geschichte mit den Merseburger Zaubersprüchen beginnt: Formeln für die Heilung gebrochener Glieder.
Wir haben unseren Nationaldichter verloren
Rühmkorfs Poetik und Politik sind ein lebendiges Wesen, das sich niemals in sich selbst getrennt hat. Vergemeinschaftung ist das Zauberwort seiner Theorie der Dichtung: Wie die Einfälle sich gewaltlos zum Werk fügen, so sollen sich auch die Bürger in schöner Ungezwungenheit miteinander arrangieren. Dass das Gedicht sich, indem es Gestalt annimmt, eine Verfassung gibt, war für Rühmkorf - darauf kommt alles an - keine Metapher. In seinem Tagebuch der Wendejahre (veröffentlicht als „Tabu I“, 1995) notierte er als böses Omen für den Vereinigungsprozess die schlechten Verkaufszahlen seiner Bücher und insbesondere von „Selbst III/88“. Wir werden es noch merken, dass wir mit diesem Verfassungspoeten unseren Nationaldichter verloren haben.
Vor dem Tod versagt das heilende Wort des Dichters. Nach dem Tod tröstet es. Das Loch für den Sarg als die gute Stube: Aus dem Volksvermögen der Redensarten alimentierte der Dichter sich bis zum Schluss. Wenn er in galgenhumorvoller Voraussicht das zugeschaufelte Grab als das dem Erdboden gleich gemachte Jammertal beschreibt, dann beschwört er im Ton äußerster Lakonie noch einmal den ganzen Reichtum der seelenheilsgeschichtlichen Bilderwelt der christlichen Überlieferung. „Irdisches Vergnügen in g“ hieß vor neunundvierzig Jahren Peter Rühmkorfs erster Gedichtband. Die Parodie des „Irdischen Vergnügens in Gott“ des Hamburger Senators Barthold Heinrich Brockes war Rühmkorfs Stil der Nachfolge.
Schlagen wir die schlanken Bände physikalischer und moralischer Gedichte auf, die Peter Rühmkorf etwa alle zehn Jahre in Reinbek zum Druck gab, und lassen wir uns im traurigen Augenblick vom Dichter erheitern. Wir können doch nicht im Ernst so tun, dass wir von seinem Tod überrascht wären. Schauen wir nicht so bedeppert.
Gedichte entstanden ihm nicht aus Worten, sondern aus Einfällen, 1929 - 2008 |