Ulrich war schon seit seiner Jugend in der evangelischen Kirche aktiv, sein Vater aus der SED ausgetreten, wie Kerstins Vater auch. Der hatte ein kleines Baugeschäft, Kleinkapitalismus nannte man das in der DDR abschätzig - keine guten Startchancen für seine Tochter. Schon früh mussten beide erfahren, dass dieser Staat ihnen nicht die Lebenschancen bieten würde, die sie sich erhofften.
Dass man sich immer überlegen musste, was man eigentlich sagt, und dadurch eigentlich in seiner Persönlichkeit und seiner Entwicklung, in seiner geistigen Persönlichkeit eigentlich nie eine Freiheit hatte und man immer in dieser Bahn laufen musste.
Das war gang, ganz extrem stark, das war ganz ausgeprägt, dieses Empfinden, dass die Zukunft verbaut ist.
Beide waren sie im Visier der Staatssicherheit, sagt Ulrich Trautwein. 1988 sei der Druck so groß geworden, dass sie Angst hatten, bald im Gefängnis zu landen.
Wir wollten nach Ungarn fahren in den Urlaub, und wurden also an der Grenze, an der DDR-Grenze zur Tschechei damals rausgezogen. Unser Auto wurde auf den Kopf gestellt. Und nachdem wir also im Auto einen Kompass und ein Fernglas hatten, da wurde uns unterstellt, dass wir da schon fliehen wollten. Wir wurden 20, 22 Stunden von der Staatssicherheit festgehalten die ganze Nacht über. Und wurden mit massivem Psychoterror an die Wand gespielt. Das war wie ein Wunder, dass wir da überhaupt rausgekommen sind. Dass sie uns da noch nicht schon irgendwie hinter Gitter gebracht haben.
Einen Ausreiseantrag zu stellen, diese Möglichkeit kam für sie nicht mehr in Frage. Das hatte Ulrichs Bruder Holger, genannt Holli, gemacht, sechs Jahre früher, erfolgreich. Doch ihre Chancen wären ungewiss - und es hätte gedauert. Die Frage war nun nicht mehr, ob sie fliehen würden, sondern nur noch wann - und vor allem wo.
Wir wussten, dass wir das über die DDR direkt in die Bundesrepublik nicht machen würden, weil der Eiserne Vorhang war einfach zu dicht. Wir hatten zwar zu dem Zeitpunkt über die Staatssicherheit schon das Verbot, das Land zu verlassen. Aber haben es dann einfach probiert und es hat auch funktioniert. Wir sind einfach nach Landkarte die Grenze abgefahren und haben geschaut, wo könnte es denn einen Punkt geben, der eine Chance bietet. Vysoka haben wir dann gesehen und haben dann meinen Bruder, der zu diesem Zeitpunkt schon in der Bundesrepublik war, das mitgeteilt, dass er eben mal nach Österreich fährt und sich das von der österreichischen Seite aus anschaut. Und dann hat er das umgehend gemacht, und hat Bescheid gegeben. Ich weiß es noch wortwörtlich: Wenn überhaupt, dann dort.
Der Ort schien tatsächlich ideal. Man wusste, wo die Grenze genau verlief, nämlich in der Flussmitte. Nur ein Zaun, dahinter Stacheldrahtrollen, kein breiter Grenzstreifen, die Wachtürme zwei-, dreihundert Meter entfernt. Kein Wunder, dass Ulrich und Kerstin nicht die ersten waren, die hier über die Grenze wollten. Auch aus der DDR waren schon einige hierher gekommen, um nach Österreich zu schwimmen. Doch nicht allen ist es gelungen. 14 Jahre zuvor hatte es ein Mann namens Rudolf Erwin Buss versucht - er wurde dabei erschossen. Ein Täter von damals, ein ehemaliger Grenzsoldat, wohnt sogar heute noch im Dorf.
Doch das österreichische Ufer war eben faszinierend nah, und so habe man sich damals leicht täuschen lassen, sagt der Historiker Lubomir Morbacher. Er ist Leiter der Dokumentationsabteilung des Instituts für das nationale Gedächtnis, dem slowakischen Pendant der deutschen Gauck- Behörde. Die Grenzanlagen in Vysoká seien überwindbar gewesen, tatsächlich, aber dafür habe man ein anderes Netz gespannt. Überall im Dorf habe es Helfer der Grenzwache gegeben.
Diese Helfer der Grenzwache waren Freiwillige, die von einem Funktionär ausgewählt worden waren. Es musste sich um zuverlässige, loyale Personen handeln. Sie wurden mit Sachgeschenken belohnt, Bücher zum Beispiel, wenn sie einen Flüchtling aufgegriffen haben. Viele von ihnen waren Jäger, und sie durften in der verbotenen Zone hinter dem Stacheldraht auf die Jagd gegen. Das war natürlich eine Art Eldorado, denn außer der Grenzwache hatte da keiner Zutritt. Einige von ihnen wurden richtige Menschenjäger, die während ihrer ganzen "Karriere" ein paar hundert Flüchtlinge aufgegriffen haben.
Grenzsoldaten und ein Netz von Spitzeln und Agenten- das genügte, um die Allermeisten aufzuhalten, die einen Weg hinüber nach Österreich suchten. Und Fremde fielen auf in diesem Nest.
Praktisch jede Kneipe, jede Kantine, überall waren Agenten. Wenn irgendein DDR-Bürger dort hin kam, ein Ungar oder ein Pole, haben sie das sofort gemeldet. Auch wenn er sich dem Stacheldraht nicht mal genähert hat, wurde er festgenommen. Das war der größte Fehler, den ein DDR-Bürger machen konnte, dass er dort jemanden nach dem Weg gefragt hat. Er brauchte unheimliches Glück, um ihnen nicht ins Netz zu gehen.
Ulrich und Kerstin war es nicht klar, worauf sie sich einlassen würden. Sie brauchten dieses Glück, auch wenn sie den Ort ein wenig kannten und sich vorbereitet hatten auf diesen Tag.
Wir wussten ja ungefähr die Mauer, man musste nach unten springen. Der Holli hatte uns gezeigt, dass das viel Maschendraht ist. Spanische Reiter. Das heißt, wir haben auch ein bisschen Springen und Sport und vom Baum springen geübt. Also, wir haben uns da auch schon vorbereitet. Wir haben normal gefrühstückt, uns lange aufgehalten, und dann haben wir uns auf den Weg gemacht. Genau.
Sonntagmittag, der 23. Oktober. Drüben im Wald warteten Bruder Holger und seine Frau als Fluchthelfer.12 Uhr, der Zeitpunkt war kein Zufall.
Zu DDR-Zeiten war das so, Sonntagmittag um 12 Uhr, da lief nichts mehr. Deshalb habe ich damals gesagt, wir machen das so ganz frech. Punkt 12 waren wir an der Grenze und irgendwie habe ich den richtigen Zeitpunkt verpasst. Vielleicht auch aus Angst anzuhalten, sodass wir eben erst dann 12.20 Uhr, 12.30 Uhr an der Grenze waren. Das war unser großes Glück, weil Punkt 12 direkt an der Stelle, wo wir uns durch den Zaun geschnitten haben, mehrere Grenzsoldaten, bewaffnete Grenzsoldaten, dort irgendwelche Erdarbeiten, oder Baumfällarbeiten oder so was gemacht haben. Also wir wären denen mitten in die Arme reingesprungen.
Sie werden zwar gleich entdeckt, ihr Glück allerdings: Es ist Peter Šcepán, ein 39-Jähriger aus Bratislava, der in diesem Moment vor dem Haus seiner Großeltern stand.
Mir ist es aufgefallen, weil Sonntagmittag war. Das Dorf war menschenleer, wahrscheinlich saßen alle beim Mittagessen. Es war ungewöhnlich, denn Fremde fuhren hier normalerweise nicht herum. Deshalb fiel mir auf, dass er ein paar Mal hin und her gefahren ist. Dann hat er das Auto an die Mauer ran gefahren - eigentlich ist er dagegen geschrammt. Sie sind aufs Dach gesprungen und haben die Drähte durchgezwickt.
Doch Šcepán ist kein Spitzel, kein Agent, er sieht nur zu, schlägt nicht Alarm. Wertvolle Sekunden, die Ulrich und Kerstin nutzen können. Sie stehen jetzt auf dem Dach ihres hellblauen Trabbi, die Bolzenschneider in der Hand.
Auf der Mauer waren mehrere Reihen Stacheldraht, die musste man halt entsprechend schnell durchschneiden auf eine Größe, dass man durchsteigen konnte. Ja, und dann musste man über die Mauer springen. Das war ziemlich tief.
Dann schnell zum Fluss und anfangen zu schwimmen. Also viele Gedanken hat man sich da nicht gemacht. In dem Moment, als das angefangen hat, lief das ab wie ein sportlicher Wettkampf.
Aber ich stand oben und hab gesagt: Ich kann nicht.
Ja, das stimmt. Ich war schneller drüber und ich musste erstmal weit über eine solche Walze, über so eine Stacheldrahtwalze drüber springen. Schon allein der Sprung war schon irgendwie was Gefährliches. Und ich war da schnell drüber und war schon auf dem Weg zum Fluss, als die Kerstin hinter mir rief: Uli, ich kann nicht. Und da hab ich nur zurück geschrien: Du musst.
Jetzt wurden sie bemerkt auch von den Grenzsoldaten. Drei Gruppen von Wehrpflichtigen, die gerade auf Patrouille sind, etwa zwei bis 300 Meter entfernt. Der 20-jährige Daniel Kuník gehörte dazu. In einem Verhör der tschechoslowakischen Staatssicherheit schildert er den Vorgang aus seiner Sicht.
Einer nach dem anderen haben wir "Halt" gerufen. Ich habe auch einen Warnschuss in die Luft abgegeben. Da die Grenzverletzer nicht stehen geblieben sind und in den Fluss sprangen, haben wir alle angefangen auf sie zu schießen. Ich habe 42 Schuss abgegeben. Die restlichen Patrouillenmitglieder haben beide 60 Schuss abgegeben.
Kerstin hatte sich da ein Herz gefasst und war ins Wasser gesprungen. Sie schwimmt jetzt um ihr Leben.
Natürlich hat man das ringsum, diese ganzen Geschosse gehört, wie sie auch rechts und links neben einem im Wasser eingeschlagen sind. Aber trotzdem hat man es eigentlich gar nicht irgendwie realisiert, du bist mit deiner ganzen Kraft und Energie geschwommen. Und auf einmal hat es durch deinen Körper einen Schlag gegeben, da wusste ich, dass irgendetwas passiert ist.
Eine Kugel von weit über 200 trifft sie in den Rücken. Schwer verletzt erreicht sie das österreichische Ufer.
Dann ist der Holli gekommen und hat mich da wirklich rausgezogen. Und da haben sie immer noch geschossen. Das war für mich die Rettung. Und dafür bin dem Holli noch immer sehr dankbar.
Noch kurz zuvor hatte Ulrichs Bruder fotografiert von der österreichischen Seite aus. Die Fotos zeigen die Flucht, wie Ulrich im Wasser ist, später Kerstin. Eines der Fotos, kaum glaublich, zeigt wie die Kugeln neben ihr im Wasser aufschlagen.
Also hier sieht man ganz deutlich den Einschuss. Das war so weit nicht. |